Und da sitze ich, eingeklemmt zwischen Wohnzimmertisch und Katzen-Kratzbaum, und bewache den Adventskranz mit den vier Kerzen. Die Heizung wärmt den Rücken, es riecht nach Tannenzweigen und selbstgemachten Zimtkringeln. Michael Bublé zwitschert im Hintergrund “Jingle Bells”, der Sohn nascht vom Schwarz-Weiß-Gebäck.
Meine Zehen stoßen an die Füße meines Mannes, er bewacht die andere Seite des Tisches. Die Einjährige ist flink, und Kerzenflackern ist aufregend. Weihnachten wie im Bilderbuch. Für wenige Sekunden. Dann drehen die Kinder wieder auf, jagen Bällen oder Filzkugeln hinterher, zusammen mit der Katze. Wir spielen “Eule versteck dich” am Kratzbaum und holen die Tochter zum x-ten Male von der Couch, damit sie nicht an die Kerzen kommt. Der Ehemann spielt mit dem Gedanken, den Tannenbaum einfach vor der Tür aufzustellen – und nicht im Wohnzimmer. Wir sind nicht sicher, ob der Baum dem Forscherdrang der Tochter standhalten wird.
Besinnlichkeit mit Kindern, oft überraschend anders. Während ich mir statt Plätzchen einfach nur Gedanken mache, schaut die Tochter alle naselang vorbei auf einen Haps Griesbrei. Dinner to go bei Kerzenschein. Jeder Bissen zählt hier. Die Kinder üben Purzelbaum. Der Ofen wärmt uns, das Feuer knistert. Nebel zieht vor den Fenstern auf.
Irgendwo im Nirgendwo
Sara und Enis, zwei und fünf Jahre alt, frieren. Ihr Zelt ist undicht, draußen regnet es. Der Boden ist kalt, die Decken sind klamm. Aber sie sind froh, sie haben endlich genug Decken, für jeden eine. Ihre Mutter Aleyna ist noch nicht wieder da. Sie ist täglich unterwegs, um Essen und frisches Wasser zu besorgen. An der Essensausgabe des Flüchtlingslagers ist es voll, manchmal dauert es mehrere Stunden, bis Mama wieder da ist. Ihren Vater haben die beiden Geschwister schon Monate nicht gesehen, sie wissen nicht, ob er überhaupt noch lebt. Sara klammert sich an Enis ´Bein. Die lauten Stimmen draußen vor dem Zelt machen ihr Angst. Beide Kinder sitzen ganz still im Dunkeln, das Licht lässt der Ältere bewusst aus. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen, sollen die Leute denken, dass keiner im Zelt ist. Aleyna hat es Enis eingebläut, seid bloß leise, nicht dass dieser Mann wieder hier auftaucht.
Aleyna ist in der Zwickmühle. Sie will die Kinder nicht alleine lassen, doch seit sie weiß, wie gefährlich auch Corona ist, lässt sie sie lieber im Zelt. Außerdem wird sie oft bedrängt auf ihrem Weg, sie will nicht, dass die Kinder davon etwas mitkriegen. Dieser Zwischenfall mit diesem Mann hat gereicht. Ihre Freundin Mira, bei der die Kinder sonst unterkamen, ist nicht mehr da. Seit dem Umzug hat sich viel verändert, manches zum Guten, manches zum Schlechten. Aleyna kämpft mit dunklen Gedanken, sie rappelt sich wieder und wieder auf, der Kinder wegen. Sie vermisst ihren Mann. Raduan. Wo er wohl ist? Sie betet inständig, er möge am Leben sein und sie wiederfinden. Ein Teil von ihr weigert sich einfach zu glauben, er könne die Überfahrt nicht überlebt haben.
Enis hält seine Schwester fest im Arm. Draußen schreien sich mehrere Männer an. Enis versteht nicht, was sie sagen. Er hat Angst. Seine Schwester sitzt ganz still neben ihm. Seit der Überfahrt spricht sie nicht mehr. An ihren Beinen hat sie kleine Verletzungen, notdürftig versorgt. Die Nachbarin erzählte etwas von Rattenbissen. Enis kämpft gegen die Tränen. Wie so häufig. Er vermisst seinen Vater. Zuhause hat er immer alles geregelt. Bis die Bomben fielen. Enis bester Freund starb vor seinen Augen. Enis wünscht sich so sehr, dass alles wieder so wird wie früher.
Zuhause
Unsere Kinder lachen. Der Sohn freut sich auf den Weihnachtsmann, auf Geschenke, Plätzchen und den geschmückten Tannenbaum. Es ist warm, trocken und gemütlich. Wir haben Wasser. Wir haben Essen. Gebäck. Schokolade. Adventskalender. Wir blättern in Kinderbüchern und lesen den Kindern Weihnachtsgeschichten von Astrid Lindgren vor.
Auf der Flucht
Enis und Sara und ihre Mutter haben Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und ärztlicher Versorgung. Nicht immer gleich gut, auch leben sie in der Gefahr, von Gewalttätern attackiert zu werden, aber sie haben bis hierhin überlebt.
Andere befinden sich jetzt, in dieser Minute, irgendwo auf dem Meer. Ziehen durch die Wüste, auf der Suche nach dem Glück, und sterben dabei. Alleine, ohne, dass die Familie weiß, was aus ihnen geworden ist. Frauen, Männer, Kinder.
Irgendwo werden in diesem Moment gerade Sklaven an Kakaofarmen vermietet. Frauen, Männer, Kinder. Dieser Kakao steckt auch in unseren Adventskalendern. Und da schützt auch das Fair Trade Siegel nicht.
Woanders werden gerade jetzt kleine Kinder verstoßen, weil ihre christlichen Eltern glauben, die Kinder seien Hexen und Schuld am Unglück der Familie. Sie müssen fortan auf Rettung hoffen oder alleine auf der Straße zurechtkommen. Manchmal sind die Kinder erst zwei Jahre alt.
In Libyen wird gerade ein Teenager mit Peitschenhieben gequält. Er war auf der Flucht vor der Rache seines Dorfes, weil er homosexuell ist. Die Abartigkeit sollte ein Exorzist austreiben. Nach einem langen Leidensweg endete die Flucht in einem Lager, das Sadisten betreiben. Und keiner wird für ihn bezahlen, damit er lebend hier herauskommt.
Viele Menschen, viele Eltern, viele Kinder befinden sich in dieser Sekunde auf der Flucht oder werden ausgebeutet oder missbraucht.
Wir leben privilegiert. Wir haben freie Wahlen, dürfen unsere Meinung frei äußern, für unser Recht demonstrieren und dürfen gleichgeschlechtliche Partner heiraten. Wir haben Zugang zu Bildung, zu frischem Wasser, zu einer funktionierenden Infrastruktur und ärztlicher Versorgung. Die Corona-Impfung liegt in greifbarer Nähe – für uns.
Auch in Deutschland oder der EU ist nicht alles rosig. Viele Kinder leiden unter dem sozialen Ungleichgewicht, was sich in Bildung und Ausbildung niederschlägt. Viele Kinder leben hier unterhalb der Armutsgrenze und sind damit sozial benachteiligt.
In Deutschland und der EU fliegen keine Bomben. Viele Kinder aus armen Familien haben die Möglichkeit, sich über soziale Organisationen mit Essen und Kleidung einzudecken. Der Sozialstaat fängt Familien aus schwachen Gefügen auf und versorgt sie mit dem Nötigsten. Das ist nicht viel, angesichts steigender Lebenshaltungskosten, aber mehr, als die Mehrheit der Menschheit hat. Machen wir uns das mal wieder bewusst. Machen wir uns bewusst, wie verdammt gut es uns geht. Nicht nur an Weihnachten, sondern an jedem V E R D A M M T E N Tag.
Zuhause
Die Kinder sind aufgedreht, aber müde. Sie dürfen Skistiefel anprobieren, die wir von Freunden geschenkt bekommen haben. Stolz stapfen sie damit übers Parkett. Der Sohn wünscht sich dringend Schnee, er will doch unbedingt Skifahren lernen. Und Schneemänner bauen.
Sie wissen noch nicht viel über die Welt da draußen. Und auch nichts von dem Coronavirus, der nun mutiert ist und wesentlich ansteckender ist als die ursprüngliche Version. Sie wachsen mit Menschen mit Masken auf, mit Kontaktbeschränkungen. Ein Stück Unbeschwertheit ist weg. Und dennoch, es ist kein Vergleich zu den vielen Leiden dort draußen in der Welt.
Vorm Zubettgehen gibt es noch ein Plätzchen. Noch vier Tage bis Weihnachten.
Alle Namen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
Titelbild: Danke an Sandy S. fürs Draufhalten!