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Kinder, Kinder: Und zur Geburt gibts Globuli

Ich weiß noch, als wir in der Apotheke eine Milchpumpe ausleihen wollten. Frisch aus dem Krankenhaus. Die nette Apothekenangestellte hat meinem Mann direkt ein Baby-Willkommenspaket überreicht. Wir haben uns wirklich darüber gefreut, so eine nette Geste. Drin waren verschiedene Cremes, Öle und – Globuli für alle Fälle.

Die Zuckerkügelchen waren in winzigen Reagenzgläschen verpackt, liebevoll eingewickelt ein lila Tülltuch. Mischungen gegen Bauchweh, Erkältungen, Hilfe fürs Zahnen und für die Mama gabs auch noch was. Ich glaube, das sollte für die Wochenbett-Zeit sein. Ist ja schon einige Jahre her. Wer googelt, findet vom glücklichen Abnabeln bis zu Pups-Globuli ein ganzes Sortiment für die Schwangerschafts- und Baby-Zeit.

Auch Hebamme und Freundeskreis empfahlen regelmäßig Globuli-Gaben bei diffusen Beschwerden. Tatsächlich stehen in unserem Schrank aus der Baby-Anfangszeit immer noch verschiedene kleine braune Fläschchen mit den Kügelchen. Schadet ja nicht. Auch die Krankenkassen kommen für die kleinen weißen Kügelchen auf. Ärzte und Heilpraktiker empfehlen sie, Apotheken mischen eigene Variationen.

Globuli nicht nur für Kinder, auch für Pferde

Ich kannte Globuli und Co. schon vor den Kindern; Reiter nämlich, die geben den Pferden das Zeug zuhauf. Nicht alle, aber tatsächlich viele Pferdebesitzerinnen. Dazu noch Variationen an Schüßlersalzen. Ich konnte sogar schon erstaunliche Sofortwirkungen an den Tieren beobachten. Damals hatte ich mich mit der Thematik noch nicht befasst. Schadet ja nicht.

Für die Reiseapotheke gibt es eigens Aufbewahrungstaschen für Globuli und Schüssler-Salze, natürlich auf Wunsch vollständig bestückt. Was ist aus den guten alten Kohletabletten geworden? Schwarz trendet ja zumindest bei Kinderwagen & Buggy, grau in Kinderzimmern.

Mittlerweile hatte ich etwas Zeit und Muße, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Spoiler: Keine Studie weist eine Wirkung nach. Ja aber, die Kinder, die Pferde! Das habe ich mir doch nicht eingebildet! Ja, auch dafür gibt es eine Erklärung.

“Einige Ärztekammern haben die Homöopathie bereits aus ihren Weiterbildungsordnungen verbannt” (Quelle)

Globuli bzw. Homöopathie ist mittlerweile einer wahnsinnigen Marketingmaschinerie unterworfen. Googelt man “Kinder & Globuli” stehen auf den ersten Seiten durchweg positive Meldungen. Hersteller, Vertrieb und Ärzteseiten, Heilpraktiker und Apotheken sprechen Empfehlungen für Wutanfälle oder ängstliche Kinder aus. Kein kritisches Wort. So viel gutes SEO. Die Zeitschrift “Eltern”, DIE Anlaufstelle für junge Eltern, finde ich auch darunter. Homöopathie für Babys. Mit Globuli durchs erste Lebensjahr. Alter! – um es in den Worten meines Sohnes auszudrücken.

Ärzte bedienen Wünsche der Patienten-Eltern

Auch auf Ärzteseiten – sehr renommierten Ärzten, Spezialisten! finde ich Empfehlungen. Aber so ist das mit Nachfrage und Angebot: Ich glaube, viele Ärzte bedienen mittlerweile einfach die Wünsche ihrer Kunden Patienten. Zumindest die der Eltern. Ist ja auch doof, hilflos zuzusehen, wenn das Baby zahnt. Da muss man doch was tun können! Also, nicht nur langweiliges Beißholz. Dass die Krankenkassen die Zuckerkugeln bezahlen, ist pures Marketing zur Kundenbindung. Unfassbar für mich, dass die Kassen Homöopathie erstatten – Sehhilfen und Zahnersatz aber nur gering bezuschussen.

(…) “Die Homöopathie zählt in Deutschland zur “besonderen Therapierichtung” und genießt damit eine Sonderrolle. Die homöopathischen Arzneimittel unterliegen nicht denselben gesetzlichen Anforderungen wie die übrigen Medikamente. So müssen die meisten homöopathischen Stoffe nicht zugelassen, sondern lediglich registriert werden. (…)” Quelle

Eltern wollen lieber was “Sanftes”, nicht so “Hämmer” für ihre Kinder. Die Chemie! Oh Schreck! Da bin ich übrigens sehr dafür, dass im Bildungssektor viel mehr getan werden muss. Vor allem im Fach Chemie. Die Bildungslücken sind da sehr groß.

Interessant ist auch die Sache zur Wirksamkeit der Homöopathie: (…) “Denn für die homöopathischen Mittel gelten andere Zulassungsregeln als für andere Arzneimittel. Zum Beispiel können sich Homöopathen und Homöopathinnen die Wirksamkeit ihrer Mittel oft gegenseitig bescheinigen.” (…)

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Es schadet ja nicht. Oder?

Nun, meistens schaden die Zuckerkugeln zumindest nicht. Uncool aber, wenn bei ernsten Dingen die Wissenschaft ausgeblendet wird. Ich habe von Fällen gehört, wo Kindern Globuli direkt ins eitrige Ohr gesteckt wurden. Wo Menschen Krebstherapie verweigern, weil Zuckerkugeln so viel wirksamer sind. Wo Eltern bei Kinderkrankheiten und hohem Fieber keinen Kinderarzt aufsuchen und nur auf Homöopathie vertrauen. In den USA gab es Todesfälle, weil doch etwas mehr giftige Tollkirsche in den Kügelchen war als gedacht.

Wirkung der Globuli durch Placebo (by-proxi)

Globuli schaden insofern nicht, wenn Eltern ihren Kindern ergänzend die Kügelchen anbieten, sofern es die Situation! zulässt. Neugeborene und Babys profitieren nicht unbedingt davon, der Verdauungsapparat bedankt sich bei der Zuckerzufuhr… Aber natürlich sollte man nicht den Placeboeffekt unterschätzen. Oder den Placebo-by-Proxi. Letzterer erklärt auch die Wirkweise bei Kindern oder Tieren.

Schlüsselwort Zuwendung

Ich bin fein damit, wenn Eltern in meinem Umfeld den Kindern Globuli geben. Wenn sie denn bei ernsten Dingen auch ärztlichen Rat einholen. Letztlich ist es ja so, dass wir Eltern unsere Kinder ausreichend versorgen wollen, wenn die Beule an der Stirn wächst oder das Knie aufgeschlagen ist. Aber hier geht es ja um Zeit, um Zuwendung. Wenn wir genauer hinschauen, bieten wir genau das: Mit fünf Zuckerkugeln, dreimal am Tag.

Eltern wollen meist nur das beste für ihre Kinder. Viele Mütter vertrauen auf die Empfehlungen der “Fachleute”, vor allem im Strudel der Hormone. Insektenstich? Was abschwellendes, gib doch x Kügelchen Apis. Schlechter Schläfer? Was beruhigendes hilft hier sicher. Wir wünschen uns alle, dass es einfach ist. Dass Schmerzen, Ängste oder Verletzungen so einfach beseitigt werden können. Das Leben ist doch kompliziert genug.

Suche nach Sicherheit öffnet Lebkuchenhäuser

Facharzttermine sind schwer zu bekommen, der eigene Arzt im Stress und hört vielleicht nicht richtig zu. Dabei ist jungen Eltern doch vor allem der Austausch wichtig. In diese Bresche springen dann Heilpraktiker, Hebammen mit Faible für Homöopathie und auch einige praktizierende Ärzte. Ihnen gemein: Zeit. Denn mit einem Besuch verdienen sie meist besser als der gemeine Haus- oder Kinderarzt in Gemeinschaftspraxis. Sie können sich die Stunde nehmen, um ihren Patienten zuzuhören, auf Ängste einzugehen. Dabei würden viele Ärzte das auch gerne machen: Es muss frustrierend sein, Menschen in Minuten “abzufertigen”, weil der Andrang so groß und der Tag so kurz ist.

Das Leben ist auch oft ungerecht. Aber daran ändert auch ein Globuli nichts. Vielmehr vermittelt die Zuckerkugel eine falsche Sicherheit. Ängste bleiben häufig unbehandelt, hinter dem stetigen Kopfschmerz stecken womöglich Sehprobleme. Zuwendung, Zuhören, das ist das, was den Menschen Sicherheit und gute Gefühle gibt. Auch unseren Kindern.

Wie bei fast allem im Leben halte ich es daher auch mit Globuli & Co. mit der Devise: Solange es niemandem schadet, ist es okay.

Ich habe ich mich damals im Auto gefreut, dass mir nicht mehr speiübel war. Auch wenn es der Placeboeffekt war. Aber geschadet hat das zumindest in diesem Moment nicht. Es wiegt Eltern allerdings in falsche Sicherheit. Und das kann durchaus ernste Folgen haben.

Geärgert habe ich mich aber, als ich Fieberzäpfchen für Kinder in der Apotheke kaufen wollte. Zuhause habe ich erst gemerkt, dass es sich um ein homöopathisches Mittel handelte. Das ist aber eine andere Geschichte.

Wie handhabt ihr die Zuckerfrage?

Spannende weiterführende Links zum Thema Homöopathie und Globulis bei Kindern

Die Herstellung und Wirkung von Globuli – einfach erklärt bei MaiThinkX

Interessant: 2 Wochen nach Veröffentlichung schreibt der Spiegel auch über genau das Thema, auch sehr lesenswert. 

Nachtrag: Bitte nicht verwechseln: Naturheilkunde ist nicht Homöopathie!


Titelbild PhotoNastya91 shutterstock

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