Ich bin am Kofferpacken, da erreicht mich über mein Handy eine Nachricht einer Leserin: Eine Stadt erhebt 50 EUR Aufwandspauschale für Kinder, die mit drei Jahren nicht trocken sind. Wickeln im Kindergarten soll ab sofort extra kosten. Eine empörte Mutter hat den Elternbrief* auf Facebook gepostet.
Auszug Elternbrief vom 7.6.2018:
(…)”Für Kinder ab 3 Jahren, bei denen ein erhöhter pflegerischer Aufwand anfällt, wird vom Träger eine monatliche Zusatzgebühr in Höhe von 50,-EUR erhoben.” (…)
Ferner heißt es, dass Eltern nach der Eingewöhnung drei Monate Zeit haben, die Kinder windelfrei zu kriegen, sonst winkt die “Aufwandspauschale”, wenn Kinder häufiger als einmal pro Woche gewickelt werden müssen bzw. die Hose nass ist.
Na klar, Facebook! Der Ort, an dem gerne Dokumente verbreitet werden, die gar nicht der Wahrheit entsprechen. Ich meine, hallo? Zack, drei Jahre, jetzt biste gefälligst windelfrei! Wupps, sind die Synapsen im Gehirn zusammengewachsen. Kind steuert von alleine aufs Töpfchen. Ja. Na klar.
Ich habe rasch vor meinem Urlaub die besagte Stadt angeschrieben. Mit der vermeintlichen Gewissheit, dass sich das Ganze sicherlich als Irrtum herausstellt.
Mitten im Urlaub mache ich den obligatorischen Emailcheck. Erfreut stelle ich fest, dass die Stadt tatsächlich geantwortet hat:
Originaltext der Email:
Sehr geehrte Frau von Lützau,
es ist richtig, dass in der Gebührensatzung im Bereich der Kinder über drei Jahren eine Aufwandspauschale von genau 50 € aufgeführt ist.
Diese Aufwandspauschale kann erhoben werden, wenn die betreuende Einrichtung dem Träger meldet, dass bei einem gesunden Kind nach einer Eingewöhnungsphase ein erhöhter pflegerischer Aufwand notwendig ist.
In der Regel sind dies Kinder, die noch Windeln tragen und die mehrfach täglich gewickelt werden müssen.
Die Entscheidung darüber obliegt dem Magistrat.
Zum Elternbrief können wir keine Stellungnahme abgeben, da er uns nicht bekannt ist.
Ich werde nachfragen, warum diese Entscheidung gefallen ist. Liegt es am Personalmangel? Sind die ErzieherInnen überfordert? Wer hat das angeregt? Und: Machen das auch andere KiTas?
Jetzt stellt euch mal den Druck auf Eltern und Kinder vor, gerade in Familien, wo jeder Pfennig zählt. Wo doch jeder weiß, dass Druck alles viel Schlimmer macht. Was passiert da in den Familien? Ich möchte euch einmal vor Augen halten, warum das Konzept “sauber werden mit drei Jahren” nicht immer aufgehen KANN.
Kinder sind Individuen. Jedes Kind macht unterschiedliche Entwicklungsschritte durch. Ein Kind läuft früher, ein anderes spricht später. Sauber werden ist ein Entwicklungsprozess – genau wie sprechen oder laufen. Dazu muss das Kind eine entsprechende Reife erlangt haben – dieser Prozess wird vom Gehirn gesteuert.
Das “gewünschteste Wunschkind” verweist in einem Beitrag auf die Empfehlung für gelassenes Abwarten – diese basiert auf den Zürcher Longitudinalstudien, an denen der Schweizer Kinderarzt Remo Largo beteiligt war. Hier geht es zum Beitrag: Warum Töpfchentraining unnötig ist – gewünschtestes Wunschkind.
In den “Kita-Fachtexten” “Die Sauberkeitsentwicklung unter dem Aspekt des Erlangens von Autonomie und Kontrolle von Gabriele Haug-Schnabel steht unter 2.4. steht sogar folgender Text: (…) “Meist gelingt es erst fünf- oder sechsjährigen Kindern, die regelmäßige Selbstverständlichkeit der Entleerungsprozesse zu akzeptieren und im Tagesablauf einzuplanen, indem sie z. B. von sich aus zu bestimmten Tageszeiten mit einer Darmentleerung rechnen und vor einem Schwimmbad- oder Kinobesuch „insich-hineinhorchen“ und prophylaktisch die Blase vorab entleeren. Aber auch schon einige Drei– und viele Vierjährige haben bereits so viel Selbstständigkeit in diesem Bereich erworben, dass sie die Körpersignale bei anstehender Entleerung rechtzeitig wahrnehmen (…)
Auf der Webseite von Eltern.de beantwortet ein Kindergarten aus Nürnberg auch Fragen zur Sauberkeitserziehung, u.a. das Vorgehen, bei Kindern, die mit drei Jahren noch nicht trocken sind.
Ich verstehe, dass beim heutigen Personalschlüssel in Kindergärten das Wickeln der Kinder zu einem erhöhten Aufwand führt. Ich verstehe, dass das Personal häufig am absoluten Limit arbeitet. Ich verstehe, dass diese Pauschale eventuell einigen Eltern vor den Bug schießen soll – denen, die die Erziehung komplett an das Personal in KiTas abgeben.
Aber am Ende sind die Leidtragenden die Kinder. Eltern wollen oder können nicht immer locker aus der Westentasche noch 50 EUR extra berappen. Nicht dafür, dass ein Kind noch eine Windel braucht. Denn was ist der Grund, warum ein Kind eine Windel braucht? Ungenügende Reife? Verzögerte Entwicklung? Schlechtes Elternhaus? So oder so, da wird ein Stempel aufgedrückt. Und der Druck erhöht. Einige Kinder werden vermutlich von den Eltern auch noch bestraft, wenn das nicht schneller geht mit dem sauber werden. Haben sich da die Verantwortlichen mal Gedanken gemacht? Ich habe viel Fantasie; ich kann mir ganz gut vorstellen, wie das dann in einigen Elternhäusern aussehen könnte…
Ich werde der Stadt antworten. Mit Link zu diesem Beitrag. Und bin ehrlich interessiert an den Antworten. Denn eine Strafe, getarnt als “Aufwandspauschale” für Kinder, die noch nicht sauber sind, finde ich völlig daneben. Andere Lösungswege fände ich besser.
Wie findet ihr das mit der Aufwandspauschale? Gibt es das in euren Kitas auch?
Eure Victoria
*Elternbrief und Schriftverkehr liegt der Redaktion vor. Ich behalte mir vor, die Angelegenheit vorerst anonym zu veröffentlichen