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Liebe Eltern – Kinder sind durch zuviel Entscheidungsfreiheit häufig überfordert

Wisst ihr noch, damals? Damals, als das Familienoberhaupt auf den Tisch haute und rief: “Solange du die Füße unter meinen Tisch steckst…” – Nein. Ich weiß das nicht mehr, zumindest nicht wissentlich. Ich denke, das gab es bei uns auch nie. Bei einigen anderen schon. Da wurde nicht lange gefragt, was das Kind will. Da wurde entschieden. Oft auch gegen das Kindeswohl. Damals war nicht alles besser.

Und heute? Ist es heute besser? Ja und nein, denke ich. Was mir allerdings vermehrt auffällt, ist die neue Überforderung von Eltern und Kindern. Die Angst ist groß, etwas falsch zu machen, von anderen Eltern bewertet zu werden. Und dann gibt es da noch die Angst, dass die Kinder ungenügend Freiraum erhalten, schließlich sind wir ja wissenschaftlich viel weiter als in den Fünfzigern. Weil, wir wissen ja mittlerweile, dass Kinder eine gesunde Resilienz erhalten sollen. Und Kinder sind eigenständige Menschen, die man nicht kontrollieren soll; Eltern wollen auf keinen Fall ihre Macht missbrauchen.

Alte Erziehungsmuster durchbrechen

So weit, so gut. Ich gehe da ja völlig konform. Viele alte Erziehungsmuster sind heutzutage völlig überholt, da sie einfach falsch sind oder noch aus der NS-Zeit stammen: Da sollten die Kinder gleich als Baby abgehärtet werden, um zu “guten Soldaten” zu werden. Da stammt auch der Irrglaube her, Babys einfach schreien zu lassen. Das ist aber ein anderes Thema, und unsere Eltern oder Großeltern wussten es nicht besser (dieser Glaube wird leider heute auch noch weit verbreitet, sogar von einigen Hebammen bei uns in der Gegend – erschreckend).

Kinder sollen zu gesunden, eigenständigen Menschen heranwachsen, die lernen, mit Konflikten oder Niederlagen umzugehen, die einen gesunden Selbstwert haben und selbstbewusst durchs Leben gehen und empathisch auf andere zugehen.

Überforderung – denn nur das Beste ist gut genug

Ganz schön viel, oder? Ich habe häufig den Eindruck, dass diese Forderungen viele Eltern völlig überfordert: Es gibt zig Bücher zu zig Erziehungsstilen, auf Teufel komm raus wird dann genau das Muster angewendet, obwohl es vielleicht gar nicht zu dieser Familie passt. Aber es ist gut, das Buch hat über 1000 positive Bewertungen beim großen A und beim Nachbarn klappt es ja auch.

Egal ob Attachment Parenting (bindungsorientierte Erziehung), Antiautoritärer Erziehungsstil, Autokratischer Erziehungsstil, Autoritärer Erziehungsstil, Demokratischer Erziehungsstil, Egalitärer Erziehungsstil, Laissez-Faire Erziehungsstil, Negierender Erziehungsstil, Permissiver Erziehungsstil*, uvm. – nichts davon muss in Stein gemeißelt sein. Na gut, den negierenden oder autokratischen Erziehungsstil, den wollen wir am liebsten gar nicht erst erwähnen. Aber nicht erwähnen heißt ja nicht, dass es ihn nicht gibt.

Flexibel bleiben ohne starre Erziehungsmuster

Worauf ich hinaus will: Jedes Alter und jedes Kind UND jede Eltern benötigen den “Stil”, der zu ihnen passt. Und das muss gar nicht so festgelegt auf eine Komponente sein, das darf ruhig so sein, dass man in der Erziehung flexibel bleibt. Denn machen wir nicht alle Fehler und lernen daraus?

Zurück zur Überforderung: Um Kinder zu gesunden Menschen heranwachsen zu sehen, wollen Eltern nur das Beste: Dazu gehört auch, dass Kinder ihre eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Das ist in Ordnung, doch je nach Alter dürfen die Eltern nicht zuviel Verantwortung auf das Kind schieben. Kleine Kinder sind mit der Eigenverantwortung überfordert, die Folge sind negative Emotionen. Ein Beispiel:

Zuviel ist zuviel – Theo will nicht in den Kindergarten

Theo geht nicht gern in den Kindergarten. Theo ist zwei Jahre alt. Die Eltern haben beschlossen, Theo zu nichts zu drängen. Das klingt erstmal absolut positiv. Theo steht also im Vorraum zur Kindergartengruppe. Auf sich allein gestellt, denn Theo soll ja freiwillig in den Kindergarten gehen. Die Eingewöhnung liegt bereits Monate zurück. Der Vater hilft seinem Sohn also beim Umziehen und Händewaschen, Theo darf schon viel alleine machen. Das finde ich gut, denn Kinder sollen eigenständig sein dürfen, sich ausprobieren. Das fördert die Entwicklung. Nun fängt Theo an zu weinen, als er in die Gruppe gehen soll. Theo erhält in diesem Fall die Verantwortung, sich zu entscheiden, dort hineinzugehen, seinen Vater zu verlassen. Sein Vater, etwas hilflos der Gesamtsituation ausgeliefert, versucht Theo gut zuzureden. Es hilft nicht. Aber Theo soll freiwillig in die Gruppe gehen und sich dazu selbst entscheiden. Mittlerweile sind schon fünf weitere Kinder umgezogen und in der Gruppe verschwunden, die Warteschlange durch Corona bleibt lang, die anderen Eltern sind teilweise verärgert. Der arme Theo.

Ich finde, man erkennt hier gut die Überforderung des Kindes, aber auch des Elternteils. Das möchte ich keinesfalls verurteilen, mir passierte ähnliches: Unsere Kinder dürfen mitentscheiden, was sie anziehen. Leider überfordert es auch Dreijährige kolossal, sie vor eine Auswahl von rund 25 T-Shirts und 20 Pullovern zu stellen. Das Ergebnis: Das Kind reagiert trotzig, will gar nichts davon anziehen, es kommt zum Streit. Bis ich den Zusammenhang erkannte, verging etwas Zeit. Und ja, unsere Kinder besitzen definitiv zu viele Klamotten – die wir mittlerweile großzügig weiterverschenken, wenn sie nicht gern getragen werden. Denn – ähnlich wie beim Spielzeug – überfordert ein ZUVIEL die Kinder.

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Mehr Führung, mehr Zuversicht

Und Theo? Hilfreich wäre es für ihn, wenn sein Vater mehr Führung übernähme. Ihm an einem Nachmittag ruhig erklärt, warum es gut ist, dass er in den Kindergarten gehen kann und das er ihn, nachdem er mit seinen Freunden gespielt hat, gleich wieder abholt. Ohne Angst mit ihm zum Kindergarten geht, positiv darüber redet und ihn an der Hand nimmt. Ihn ohne Selbstzweifel umarmt, ihm sagt, dass er ihn nach dem Essen sofort abholt und er bis dahin eine tolle Zeit haben wird. Abschiedskuss, bye.

Leicht gesagt, was? Das ist es nicht. Es ist herzerweichend, wenn das eigene Kind so weint und nicht in die Gruppe will. Es geht hier allerdings nicht um die Eingewöhnung. Sondern um echte Überforderung, nur das Beste für sein Kind zu wollen. Und wie soll man da positiv sein, wenn man mit einer Erwartungshaltung in die Gruppe geht? Die Situation ist nicht einfach. Einen Reset-Knopf gibt es nicht. Aber sein Kind entscheiden zu lassen, wann es bereit ist, ist zuviel verlangt. Denn es ist einfach: Das Kind möchte NATÜRLICH lieber bei seinem Vater bleiben. Zumal er die Zweifel spürt. Und wenn Papa zweifelt, dann erwartet mich doch das Schlimmste in der Gruppe, oder?

Eltern sein ist nicht einfach. Wir werden mit so vielen Informationen konfrontiert, müssen wählen, ob sie zu uns passen, ob sie richtig sind oder falsch. Die Kinder sollen sich in der Gesellschaft anpassen können und trotzdem frei erzogen werden. Daneben Job, Haushalt und was nicht alles: Ein Zuviel von allem endet in Überforderung.

Wichtig sind nur einige essentielle Punkte: 

  • Kinder sollen (sich) ausprobieren dürfen. So lernen Kinder, auch mit Konfliktsituationen umzugehen
  • Wir müssen Kindern Selbstbestimmtheit in einem bestimmten Rahmen vorgeben: Je nach Alter variiert die Freiheit der Selbstbestimmung.
  • Kinder bzw. Familien benötigen Regeln.
  • Liebe, Interesse am Kind und Nähe sind eine gesunde Basis für ein gesundes Selbstwertgefühl und Vertrauen.
  • Kein Erziehungsstil ist in Stein gemeißelt: Kinder und Familien entwickeln sich weiter, haltet daher nicht dogmatisch an etwas fest, was nicht mehr passt.
  • Zuhören. Einfach zuhören.
  • Sei da für dein Kind, wenn es dich braucht.

Klingt kitschig, ist aber so. Wenig hilfreich sind Kommentare wie “dann bleibst du eben alleine hier” oder “dann geh ich ohne dich”. Und ja, auch ich habe aus Überforderung schon diese Dinge gesagt. Frau ist ja Mensch und kein Heiliger. Aber das tolle ist ja, dass man sich mit Kindern selbst in Frage stellt und sich weiterentwickelt. Ist Arbeit, lohnt sich aber. 


Erklärung zu den einzelnen Erziehungsstilen

Attachment Parenting (bindungsorientierte Erziehung)

In der bindungsorientierten Erziehung wird viel Wert auf Nähe und Wertschätzung des Kindes gelegt, die Bedürfnisse aller Familienmitglieder sollen berücksichtigt werden. Häufig besteht die Gefahr, dass die Eltern nicht zwischen Wünschen und Bedürfnissen unterscheiden und sich selbst aufgeben, um dem Kind “gerecht” zu werden.

Antiautoritärer Erziehungsstil

Antiautoritär wird heutzutage kaum noch praktiziert, der Trend geht zur demokratischen Erziehung. In den Sechzigern sollte dieser Stil der herkömmlichen Erziehung etwas entgegensetzen. Antiautoritär heisst übrigens nicht, keine Regeln aufzustellen. Die Kinder erfahren viel Wertschätzung, die Bindung wird gestärkt.

Autokratischer Erziehungsstil

Die verstärkte Form des autoritären Erziehungsstils: Die Eltern bestimmen, das Kind soll gehorchen. Kreativität und Selbstwertgefühl bleiben auf der Strecke. Die Folge: Aggressionen, auch gegenüber Schwächeren, Gefahr von Selbstverletzung im Jugendalter und eingeschränktes selbstständiges Denken.

Autoritärer Erziehungsstil

Belohnen und Bestrafen dominieren diesen Erziehungsstil. Auf die Wünsche der Kinder wird kaum eingegangen. Kinder äußern sich daher häufig mit Aggressionen gegenüber Schwächeren.

Demokratischer Erziehungsstil

Eltern beziehen die Kinder in Entscheidungen mit ein, überlassen sie diese aber dem Kind nicht alleine. Die Kinder erleben durch das ausgewogene Verhältnis von Freiheit und elterlicher Autorität Vertrauen, Bindung und Nähe.

Egalitärer Erziehungsstil

Hier sind Eltern und Kinder absolut gleichberechtigt, egal, wie alt das Kind ist. Es wird daher alles ausdiskutiert, was sich in die Länge ziehen kann – oder das Kind die Thematik noch gar nicht versteht. Im späteren Leben leidet das Kind unter Anpassungsschwierigkeiten, weil es sich an Regeln oder Vorgaben halten muss.

Laissez-Faire Erziehungsstil

Um es kurz zu sagen: Die Eltern beteiligen sich nicht viel. Falls das Kind Hilfe braucht, muss es diese selber einfordern. Meist verhalten sich die Eltern passiv. Diese Kinder leiden später enorm unter Bindungsproblemen und der Fähigkeit, sich im Berufsleben anzupassen. Außerdem ist das Selbstwertgefühl häufig recht niedrig.

Negierender Erziehungsstil

Dieser extreme Erziehungsstil bietet Kindern keine Regeln oder Grenzen, Eltern glänzen mit Passivität und Gleichgültigkeit. Kinder bauen keinen Bezug zu ihren Bezugspersonen auf, kämpfen früh mit Selbstzweifeln und Unsicherheit. Erziehung ist das keine, eher Vernachlässigung zusammen mit seelischem Missbrauch.

Permissiver Erziehungsstil

Ähnlich wie antiautoritäre Erziehung, allerdings gibt es gelegentlich Grenzen durch die Eltern. Das Kind soll möglichst alles selbst entscheiden. Kinder, die so erzogen werden, leiden meist im Teenie- oder Erwachsenenalter unter Beziehungsproblemen. Diese Kinder wissen später oft nicht, wie sie mit Distanz oder Ablehnung umgehen sollen.

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