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Die Diskrepanz im Alltag: ADHS, Selbstbild und die Wahrnehmung durch andere

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„Du bist halt ein bisschen empfindlich.“
Ich kanns nicht mehr hören.

Solche Sätze begleiten nicht nur mich, sondern viele neurodivergente Erwachsene seit der Kindheit. Sätze, die die eigene Wahrnehmung und das Empfinden herabsetzen. Sätze, die übergriffig sind. Auch wenn sie nicht böse gemeint sind. 

Später, wenn wir Eltern sind, prallt diese Meinung auf einen Alltag, der wenig Spielraum bietet. Zeitdruck, emotionale Anforderungen, Reizüberflutung – das alles kann für ein Gehirn, das anders funktioniert, ziemlich anstrengend sein.

Neurodivergenz ist ein Spektrum mit unterschiedlichen Ausprägungen: ADHS, Autismus, Hochbegabung oder auch Reizverarbeitungsstörungen. Daneben Dyskalkulie, Dyslexie oder Tourette. Manche Menschen wissen davon seit ihrer Jugend, andere entdecken es erst spät – oft im Zusammenhang mit den Bedürfnissen ihrer eigenen Kinder.

Alltag mit anderem Betriebssystem

Wer neurodivergent ist, nimmt Informationen anders auf. Geräusche, Gerüche, visuelle Eindrücke oder soziale Dynamiken können intensiver wirken. Für Eltern bedeutet das: Der ganz normale Alltag – Schulorganisation, Lautstärke, soziale Kontakte, emotionale Dauerverfügbarkeit – kostet mehr Energie. Das beruht nicht auf Einbildung oder Hochsensibilität, sondern durch eine andere Funktionsweise des Gehirns.

Viele Betroffene gleichen das aus – durch Routinen, Struktur, Perfektionismus oder sozialen Rückzug. Für Außenstehende ohne Einblick wirkt das oft funktional und gut organisiert (wenn nichts dazwischen gerät oder Strukturen sich ändern). Gleichzeitig berichten viele neurodivergente Eltern über ein ständiges inneres Jonglieren, Reizgrenzen, die schwer zu kontrollieren sind, oder das Gefühl, nie wirklich zur Ruhe zu kommen. Ja, herzlich willkommen an dieser Stelle. 

Späte Erkenntnis, frühe Folgen

Nicht wenige neurodivergente Erwachsene erhalten ihre Diagnose erst nach Jahrzehnten. Die Gründe sind meist die selben: unauffällige Anpassung im Schulsystem, fehlende Informationen über das Spektrum, gesellschaftliche Vorstellungen davon, wie „Auffälligkeit“ mit ADHS oder Autismus aussieht. Gerade bei Frauen bleiben neurodivergente Strukturen lange unerkannt.

Oft zeigt sich die Belastung auf anderen Ebenen: Erschöpfung, psychosomatische Beschwerden, diffuse Schmerzen, Konzentrationsprobleme. Manche entwickeln chronische Erkrankungen wie Fibromyalgie oder Erschöpfungssyndrome – nicht als direkte Folge der Neurodivergenz, sondern als Resultat jahrelanger Überanstrengung ohne geeignete Strategien, um ins gesellschaftliche Bild zu passen. 

Bemerkbar macht sich das dann, wenn Frausein mit Elternschaft kollidiert und womöglich Peri Menopause und Wechseljahre vor der Tür stehen. Das knallt richtig, da kann der China-Böller einpacken. 

Was hilft: Wissen und Selbstklärung

Viele Eltern erleben mit der Diagnose oder Selbsterkenntnis zunächst Verunsicherung – und dann Erleichterung. Endlich ergibt manches einen Zusammenhang: Warum Gruppen anstrengend sind. Warum bestimmte Reize kaum auszuhalten sind. Warum Struktur einerseits hilfreich und andererseits stressig sein kann. 

Das bedeutet nicht, dass plötzlich alles leichter wird. Aber es verändert die Selbstwahrnehmung. Und oft auch die Haltung zu sich selbst:
Nicht defizitär – sondern funktional anders.

Familie als Resonanzraum

Eltern im Spektrum stehen oft unter besonderem Druck. Sie wollen präsent sein, zuverlässig, emotional stabil. Gleichzeitig leben sie in einem System, das selten auf ihre Bedürfnisse Rücksicht nimmt. Familienlärm, soziale Verpflichtungen, ständige Reaktionsbereitschaft, abgehängtes Schulsystem – all das verlangt einem Nervensystem viel ab, das ohnehin schnell in die Übersteuerung rutscht.

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Kinder selbst nehmen diese innere Spannung schnell wahr. Sie fragen nach, passen sich an oder fordern besonders viel. Eine offene Kommunikation – altersgerecht, ehrlich, ohne Schuld – kann hier helfen. Sätze wie:
„Ich brauche kurz Ruhe, dann kann ich wieder besser zuhören“ oder
„Heute war zu viel los, ich muss erst wieder runterkommen“
sind alltagstauglich und stärken langfristig das gegenseitige Verständnis.

Verstehen statt verurteilen

Neurodivergenz ist kein Etikett. Eine Diagnose ist aber eine Einladung für das eigene Verstehen. Für das eigene Verhalten. Für die innere Dynamik. Für die täglichen kleinen Kraftakte, die andere nicht sehen. 

Wer erkennt, wie das eigene Gehirn arbeitet, kann Strategien entwickeln, die Entlastung bringen – ohne ständige Anpassung, ohne ständiges Überschreiten der eigenen Grenzen.

Nicht alles lässt sich wegorganisieren. Aber vieles lässt sich besser einordnen, wenn man sich selbst versteht. Auch wenn andere das von außen oft nicht sehen können. Auf die werfen wir einfach den imaginären China-Böller. 

 

Mögliche Anzeichen für neurodivergente Eltern

Hinweise, die auf ADHS, Autismus, Hochsensibilität oder andere neurodivergente Merkmale hindeuten können 

  • Reizempfindlichkeit: Geräusche, Licht, Berührungen oder soziale Situationen werden schneller als belastend empfunden.

  • Erschöpfung nach Alltagskontakt: Selbst kurze Gespräche, Elternabende oder Spielplatzbesuche können innerlich „auslaugen“.

  • Sprunghafte Aufmerksamkeit oder Gedankenflut: Viele Ideen, gleichzeitig Schwierigkeiten beim Priorisieren oder Abschließen von Aufgaben.

  • Überforderung durch Routineaufgaben: Haushalt, Zeitmanagement oder Familienorganisation bringen dauerhaft hohen mentalen Aufwand mit sich.

  • Perfektionismus oder Rückzug: Der Alltag wird entweder akribisch strukturiert – oder ganz vermieden, wenn die Reizlast zu hoch wird.

  • Konzentrationsprobleme trotz hoher Intelligenz: Aufgaben werden nicht begonnen oder mitten im Prozess abgebrochen – oft mit Selbstvorwürfen.

  • Starkes Verantwortungsgefühl: Hohe Sensibilität für die Gefühle und Bedürfnisse der Kinder, oft begleitet von einem schlechten Gewissen bei Überforderung.

  • Stimmungsumschwünge oder emotionale Reizbarkeit: Besonders in stressigen Familienphasen, nach Reizüberflutung oder bei Zeitdruck.

  • Tiefe Selbstzweifel: Häufiges Gefühl, „nicht gut genug“ zu sein, obwohl objektiv viel geleistet wird.

🔍 Tipp:

Wer sich hier wiedererkennt, muss keine Selbstdiagnose stellen – aber es kann durchaus hilfreich sein, sich mit neurodivergenten Informationsquellen auseinanderzusetzen oder sich fachlich durch qualifizierte Ärzte begleiten zu lassen.
Nicht zur „Etikettierung“, sondern zur eigenen Entlastung!

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